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Prolog

 

St. Barth in der Karibik, 31. Dezember 2018

 

Tamara lächelte, als sie das Knallen von Feuerwerkskörpern hörte. Den ganzen Tag hatte sie sich darauf gefreut, jetzt wollte sie es auch sehen. Den Jahreswechsel erlebte man schließlich nicht alle Tage auf einer Jacht mitten in der Karibik. Vorsichtig streifte sie die Maske aus mit Goldfäden durchwobenem schwarzem Samt von den Augen und bekam vor Staunen den Mund nicht mehr zu. Sie lag auf einem riesigen Bett, über sich nur Glas und der vom Feuerwerk hell erleuchtete Himmel über Gustavia. Der Kunde hatte sie vor wenigen Minuten verlassen und seine Rückkehr erst in einer Stunde angekündigt. Viel Zeit also, um ein paar Regeln zu brechen. Schließlich hatte sie verdammt hart gearbeitet, etwas frische Luft und eine Zigarette hatte sie sich allemal verdient. Und das grandiose Feuerwerk würde sie für ihre Mitbewohnerin Larissa filmen, und ihr nach Monaco schicken. Sie wusste, wie verrückt Larissa nach Feuerwerk war – die würde Augen machen!

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Nackt trat Tamara durch die offene Balkontür auf das Oberdeck, dass komplett von der Eignerkabine eingenommen wurde, und zündete sich eine Zigarette an. Vier Stockwerke der Jacht lagen ihr zu Füßen, ebenso wie das im Mondlicht glitzernde Wasser. Die Kabine, in der sie gerade fünftausend Dollar verdient hatte, bildete die Spitze eines Eisbergs aus Stahl und Glas. Es war ein berauschendes Gefühl. Noch vor wenigen Stunden hatte sie am Strand gelegen und einen heißen Augenflirt mit einem Hollywoodstar gehabt und jetzt war sie hier. Sie zog den Rauch tief in ihre Lungen ein und filmte mit ihrer Handykamera das Wasser, um die Spiegelungen des Feuerwerks auf der Wasseroberfläche einzufangen.

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Es war wirklich atemberaubend – auch wenn Tamara an spektakuläre Ausblicke mittlerweile gewöhnt war. Im europäischen Sommer St. Tropez, Ibiza und Sardinien, im Winter die Karibik. Dürfte sie im Rahmen ihres Jobs fotografieren, sie könnte ein Kompendium der schönsten Jachten zusammenstellen.

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In den letzten Tagen hatte Tamara einen Software-Tycoon aus Kalifornien, einen berühmten Rapper, der sich eigentlich um seine Promi-Frau und ihr gemeinsames Baby kümmern sollte, und zwei Industrielle aus Frankreich und Mexiko auf ihrer Kundenliste gehabt. Alle gehörten der Kategorie Pfau an, wie sie und ihr Manager Alex diese Kunden nannten. Eitel bis zum Abwinken und stolz, sich Tamara leisten zu können. Also keine Augenbinden, was ihr beim Gedanken an den fetten Franzosen eher leidtat. Aber es hatte auch drei »Blind Dates« in den letzten zwei Wochen gegeben, und damit die Gewissheit, mit einer ganz anderen Kategorie Mann zu tun zu haben. Sie waren auf der Jagd und wollten dabei nicht gesehen werden. Das waren Männer, für die zu viel auf dem Spiel stand – auf jeden Fall mehr als eine tobende Ehefrau und im schlimmsten Fall die Scheidung. Alex hatte Tamara direkt nach dem Besteigen des Helikopters die Maske aufgesetzt. Zur Sicherheit des Kunden und  auch zu ihrer eigenen durfte sie auf keinen Fall erfahren, zu welcher der vielen Jachten in der Bucht sie gebracht wurde. Noch wichtiger, auf keinen Fall sollte sie erfahren, wer sie in den nächsten Stunden ficken würde.

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Und gerade deshalb genoss sie den Reiz des Verbotenen ganz besonders, während sie das Handy mit weiterhin filmender Kamera auf der Brüstung ablegte, um sich eine zweite Zigarette anzuzünden.

Etwas in ihr hatte sie schon immer getrieben, das Beste aus ihren Umständen machen zu wollen. Aufgewachsen in Tschelobitjewo, einem heruntergekommenen Slum in Moskau, hatte sie sich nicht mit ihrem vorherbestimmten Schicksal zufriedengegeben und schon früh ihr einziges Kapital in die Waagschale geworfen: ihren makellosen Körper. Sie war gerade dreizehn, als sie Yuri, dem Freund ihrer Mutter, das erste Mal einen geblasen hatte, um zu Geld zu kommen. Schon bald erhöhte sie den Preis und begann sich auch anderen Männern anzubieten. Erst Lehrern, dann dem Schuldirektor und seinen zahlungskräftigeren Freunden. Mit sechzehn war sie bereits mit vielen Moskauer Politikern und Industriellen und deren sexuellen Vorlieben bekannt. Zwei Jahre später verließ sie Moskau endgültig und bezog ein Appartement mit Blick auf den Hafen von Monaco. Etwa zur selben Zeit hatte sie Alex, einen in Miami lebenden deutschen Makler für Luxusimmobilien und Jachten, kennengelernt. Der nutzte seine Firma als Deckmantel für die Vermittlung von Edelcallgirls an die Mächtigen und Reichen dieser Welt. Schnell hatte sie sich in Alex’ Agentur den Status eines Spitzenmädchens für die ganz besonderen Kunden erarbeitet.

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Und heute Nacht, während zu Hause Regenstürme die Strände des Mittelmeers zu melancholischen Orten machten, genoss sie die „Carribean Season“ mit diesem grandiosen Feuerwerk – das für ihren Geschmack viel zu schnell wieder abflaute. Vermutlich wurde es allmählich Zeit, wieder in die Kabine zurückzukehren. Tamara wollte sich gerade abwenden, als sie auf dem Deck unter sich jemanden reden hörte.

 

Wahrscheinlich waren sie schon die ganze Zeit dagewesen, aber erst in der einsetzenden Stille, konnte sie die Stimmen zweier Männer ausmachen. Tamara wusste, es war verboten, aber dennoch beugte sie sich nach vorn, um vorsichtig über die Brüstung zu spähen. Einer der Männer stand im Schatten, der andere im Schein der Bordbeleuchtung. Schnell zog sie den Kopf zurück, um nicht entdeckt zu werden. Unmöglich, aus ihrer Perspektive und mit dem einen Blick auszumachen, wer da unten stand. Vielleicht ihr Kunde? Tamara lächelte, zog erneut an ihrer Zigarette und schob dann die noch immer laufende Kamera ihres Handys vorsichtig über die Kante. Jetzt filmte sie direkt nach unten in Richtung der beiden Unbekannten.

Das war heute schon der zweite und noch drastischere Verstoß gegen die klaren Regeln ihres Jobs: keine Dokumentation in Bild und Ton. Niemals. Aber die Neugier trieb sie an. Die Jacht und alle Sicherheitsvorkehrungen ließen darauf schließen, dass ihr Kunde extrem prominent war. Ein leichter Schauder bescherte ihr Gänsehaut am ganzen Körper. Das war kein Kunde wie jeder andere. Zu Beginn zärtlich und scheinbar bemüht, die an sich klare Rollenverteilung aufzulösen. Besseren Sex hatte sie lange nicht mehr gehabt, schon gar nicht im Job. Urplötzlich war er dann aber von einer fordernden und rücksichtslosen Härte, die ihr Angst gemacht hatte. Einmal ein Blind Date enttarnen ... nur dieses eine Mal. 

Die Stimmen der beiden Männer konnte sie mittlerweile deutlich auseinanderhalten: der eine sprach mit amerikanischem Akzent, der andere perfektes Oxfordenglisch. Die Fetzen, die sie aufschnappte, waren alles andere als aufregend. Es ging offenbar um den Nahen Osten, Iran, Irak, Terrorgefahr, amerikanische Politik und Gott weiß was für langweilige Sachen noch. Enttäuscht, nichts Spannenderes zu hören, beendete Tamara die Videoaufnahme schließlich, tippte »Hey Issa, I`m on fire ;-)« und schickte sie an Larissa. Vorsichtshalber löschte sie die Aufnahme und die Nachricht im Anschluss. Man konnte schließlich nie wissen.

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Eine überraschend kühle Brise ließ sie frösteln. Besser, sie kehrte nun in die Kabine zurück. Doch in diesem Moment rutschte ihr die fast abgebrannte Zigarette aus den klammen Fingern, fiel zu Boden und rollte wie in Zeitlupe zum Rand des Decks. Tamara sah wie gelähmt zu, unfähig einzugreifen, wie der glimmende Stummel über die Kante verschwand. Ihr Herzschlag raste und sie konnte nur eines denken: Lass die beiden da unten weiterreden, lass die Scheißzigarette hinter ihnen gelandet sein!

Aber da war eine Stille, die Tamara in Sekundenbruchteilen hunderte kleiner Schweißperlen auf die Stirn trieb.

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Nach vielleicht fünf Sekunden, die Tamara wie Stunden vorkamen, setze das monotone Murmeln wieder ein. Sie wagte einen zittrigen Atemzug.

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Dann traf sie unvermittelt ein derart grelles Licht, dass sie das Gefühl hatte, erblindet zu sein. Wahrscheinlich ein Teil des Sicherheitskonzepts, das Megajachten wie diese zu schwimmenden Festungen machte. Wie gelähmt stand Tamara im Scheinwerferlicht, so stark wie Blendgranaten.

Auf der Außentreppe, dem einzigen Zugang zum Oberdeck außerhalb der Kabine, polterten Schritte. Nur schemenhaft nahm Tamara zwei Männer in schwarzen Anzügen wahr. Einer drehte ihr grob den rechten Arm auf den Rücken und stieß sie gegen die Kabinenwand. Ihr Kopf schlug hart gegen das Panzerglas. Blut tropfte aus ihrer Nase und ihr Schädel dröhnte. Benommen nahm sie wahr, wie der zweite Mann ihr das Handy entriss. 

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»Lass mich los«, ächzte sie.

Doch der Griff wurde noch schmerzhafter und ihr Peiniger zischte ihr direkt ins Ohr: »Davon habe ich schon immer geträumt, du Schlampe. Ihr kommt hier an Bord, macht die Beine breit und fliegt mit mehr Kohle wieder ab als unsereins im Monat verdient. Seid ihr das wirklich wert?«

Tamara spürte den übelriechenden Atem des Mannes direkt an ihrem Hals und zu ihrem Entsetzen seine Finger, die sich von hinten zwischen ihre Beine schoben.

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Verzweifelt versuchte sie dem stählernen Griff zu entkommen. Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein. »Na, was kostet das?« fauchte er ihr direkt ins Ohr. »Einmal ohne Gummi, zwanzig Dollar. Einverstanden?«

»Du hast kein Recht, mich anzufassen!«

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»Schluss mit dem Theater!« Das Gelächter der Männer wurde von einem schneidenden Kommando durchbrochen. Der Griff lockerte sich sofort. »Alles unter Kontrolle, Boss, hab ihr nur ein bisschen Angst gemacht.«

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»Hören Sie«, sagte Tamara und versuchte, das Zittern in ihrer Stimme mit aller Kraft zu unterdrücken. Sie hielt den Kopf gesenkt, jeden Blickkontakt vermeidend. »Es tut mir so leid, dass ich die Kabine verlassen habe. Aber ich kenne Ihr Schiff nicht und habe auch noch niemanden erkannt! Es ist nicht so, wie Sie denken. Ich wollte nur mal kurz an die frische Luft und das Feuerwerk sehen.«

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Das Summen der Hochleistungsstrahler und das entfernte Plätschern der Wellen, die an den Rumpf der Jacht schlugen, waren für einen langen Moment die einzigen Geräusche. 

»Ich mach’s wieder gut!«

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Jäh wurde sie nach vorn gestoßen und landete schmerzhaft auf den Knien. Mit ihren Händen versuchte sie, sich notdürftig zu bedecken. Angst breitete sich in ihr aus wie Eis auf einem gefrierenden Teich. Sie hatte komplett die Kontrolle über die Situation verloren.

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Dann ging ein Mann vor ihr in die Knie. Panisch blickte sie nach unten, versuchte instinktiv, dem Anblick des Mannes auszuweichen. Warum machte er das? Sie wollte niemanden sehen, keinen Vorwand bieten, noch Schlimmeres mit ihr zu machen. Sie sehnte sich so sehr nach der Anonymität der Augenbinde zurück.

»Hör zu, du hast die Regeln gebrochen. Gut möglich, dass das alles ohne böse Absicht geschehen ist.« Sein Ton war freundlich und doch von einer Gleichgültigkeit, die Tamara erneut Tränen in die Augen trieb.

»Aber das Leben ist nun mal so, dass man die Konsequenzen seines Handelns tragen muss, nicht wahr, Tamara?«

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»Bitte«, versuchte sie es nun flehend, den Blick immer noch auf den Boden gerichtet. Das Zittern in ihrer Stimme gewann die Oberhand. »Das war unglaublich dumm von mir und es tut mir leid. Aber ich habe doch nichts gehört, sie haben viel zu leise gesprochen. Und ich habe niemanden gesehen. Ich bitte Sie, lassen sie mich einfach gehen! Alex wird mich wegbringen, Sie hören nie wieder von mir, ich bin ein Profi!«

Fast zärtlich griff der Mann nach ihrem Kinn und hob gegen Tamaras Widerstand ihren Kopf an.

»Leider hast du bewiesen, dass du nicht mal ansatzweise der Profi bist, für den wir dich gehalten haben. Wie du siehst, habe ich keine Wahl.«

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Tamara blinzelte, Tränen rannen ihr über die Wangen.

Plötzlich ging alles ganz schnell. Der Mann vor ihr trat zurück und zwei Wachleute packten sie erneut grob an den Armen und stießen sie über steile Außentreppen Deck für Deck nach unten und dann weiter bis zum Ende des knapp über der Wasserlinie schwebenden Sonnendecks am Heck der Jacht, die mittlerweile Fahrt aufgenommen hatte. Sie steuern auf das offene Meer hinaus, durchfuhr die Erkenntnis Tamara, während sie verzweifelt dem Griff der Männer zu entkommen versuchte. Entsetzen schnürte ihr die Kehle zu, sie konnte nicht einmal schreien. Ein brennender Schmerz durchzuckte ihren Arm, in dem auf einmal die Nadel einer Spritze steckte. Sie keuchte, bäumte sich auf, doch schon nach wenigen Sekunden setzte die Wirkung ein. »Was ...?«, murmelte sie.

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Tamara kannte das Gefühl, das Heroin im Körper auslöste. Als Vierzehnjährige hatte sie alles probiert, was auf Moskaus Straßen zu bekommen war und sie zeitweise vergessen ließ, womit sie das viele Geld verdiente.

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Das weiß schäumende Meer verschwamm vor ihren Augen zu einem hellen, pulsierenden Licht. Plötzlich hielt sie niemand mehr fest, sie taumelte, machte einen Schritt … und trat ins Leere.

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Der Sturz war kurz, sie tauchte kopfüber in das brodelnde Wasser ein. Merkwürdig unbeteiligt nahm sie wahr, wie sie durch das von Millionen Luftblasen durchsetze Wasser tiefer nach unten gedrückt wurde. Für einen Moment schien alles friedlich und ruhig, aber dann meldeten sich ihre brennenden Lungen und sie versuchte verzweifelt, wieder an die Wasseroberfläche zu gelangen.

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Wasserspuckend und gierig die Luft einsaugend sah sie den Lichtern der schnell kleiner werdenden Jacht hinterher. Ein panischer Blick in Richtung Insel zeigte ihr, dass sie nicht den Hauch einer Chance hatte, die Küste zu erreichen. Wie Sterne funkelten die fernen Lichter der Villen und Hotels entlang der Uferlinie. Einige verzweifelte Schwimmstöße gab sie wieder auf, das Heroin entfaltete jetzt seine volle Wirkung.

Tränen schossen Tamara in die Augen, als sie begriff, dass ihr Leben hier nun enden würde. Als eine junge anonyme Frau, die im Rausch der Drogen über Bord gegangen war. Als jemand, der kaum vermisst werden würde.

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Ein paar letzte verspätete Feuerwerkskörper tauchten den Himmel über ihr und das Wasser um sie herum in alle denkbaren Regenbogenfarben. Alles begann sich um sie zu drehen. Ein pulsierendes Licht stieg aus der Tiefe zu ihr auf, berauschend schön. Das Feuerwerk schien jetzt aus allen Richtungen zu kommen. Ihr Körper fühlte sich so leicht an, dass sie Arme und Beine nicht mehr spürte. Langsam legte sie den Kopf nach hinten, warmes Wasser rann ihr in die Nase und den offenen Mund. Luftblasen stiegen auf, als ihr Körper langsam tiefer sank und sie mit weit aufgerissenen Augen das Spiel der tanzenden Farben bewunderte.

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